Müllfrei einkaufen

„Stückgut“ ist wie Tante Emma, nur moderner

BRANDS WE LIKE
Gründerin Sonja Schelbach
„Praktisch etwas bewegen“: Gründerin Sonja Schelbach in ihrem Laden mit Café in Hamburg.

Normalerweise gehe ich mit leeren Taschen einkaufen und kehre mit vollen zurück. Diesmal sind sie schon vorher voll: Fünf Tupperdosen, zwei Vorratsgläser, eine Keksdose, eine leere Spüli-Flasche und einige gebrauchte Obsttüten konnte ich auf die Schnelle auftreiben – für einen Test sollte das reichen.

Im Januar 2017 hat Hamburgs erster Unverpackt-Laden mit Café namens „Stückgut“ aufgemacht – und ich bin gespannt, wie so ein Zero-Waste-Einkauf funktioniert. Über den Berg an Einwegverpackungen nach einem Supermarktbesuch ärgere ich mich schon lange. Jede Woche füllen mein Freund und ich unfreiwillig einen gelben Sack mit Plastik, Alu und Tetrapaks.*

Dr.-Ing. Sonja Schelbach, eigentlich Architektin, und die Betriebswirtin Insa Dehne haben ihre festen Jobs an den Nagel gehängt, um Hamburg ein Stück weit von Müll zu befreien.

„Nachdem wir uns lange mit dem Thema befasst hatten, wollten wir endlich auch praktisch etwas bewegen – und hoffen, dass wir auch davon leben können.“

Nach einem Jahr Vorbereitungszeit bezogen sie einen 70-Quadratmeter-Laden in Ottensen, einem Viertel, wo viele Leute umweltbewusst leben. Am Eingang baumelt ein nostalgisches Namensschild am schmiedeeisernen Träger, drinnen knarzen alte Dielen unter den Schuhen, Regale und der Tresen bestehen aus Apfelkisten, und fürs Kaffeekränzchen wurden Flohmarkt-Stühle um Kabeltrommeln arrangiert.

„Bulk Bins“ anstelle von Einzel-Verpackungen: Ein ungewöhnlicher Anblick.

Neben offen präsentiertem Brot, Obst und Gemüse lagern die meisten Waren in Glasgefäßen, bauchigen Flaschen und transparenten Abfüllbehältern, „Bulk Bins“ genannt. Keine knalligen Labels, keine Werbebildchen lenken vom Inhalt ab oder gaukeln etwas vor. Ungewöhnlich ist bei „Stückgut“ auch dies: Die wenigen konventionell erzeugten Waren wurden extra markiert, alle anderen sind „bio“, sonst ist es anders herum.

Und so funktioniert der Kauf von Schütt- und Schaufelgut:

1. Eigenständig die mitgebrachten Behälter wiegen und beschriften.

2. Waren in gewünschter Menge einfüllen.

3. Zur Kasse gehen, wo der Preis nach Gewicht minus Behältergewicht ermittelt wird.

Im Prinzip einfach, aber auch umständlich. Ich brauche allein zehn Minuten, um alle Gefäße zu wiegen (von denen der Großteil am Ende unbenutzt bleibt). Eine Einkaufsliste habe ich nicht, der Plan: Ich lasse mich mal inspirieren. Mein erster Impuls lenkt mich zu den Süßigkeiten. Per Zange lange ich nach Schokostücken und stecke sie in eine Papiertüte. Dann will ich Müsli in ein Vorratsglas rieseln lassen, doch als meine Hand schon den Hebel umgreift, sehe ich, dass das Glas noch feucht vom Abwasch ist. Sonja reicht mir ein Geschirrhandtuch.

DER VERZICHT AUF PLASTIKTÜTEN ALLEIN GENÜGT NICHT

Ich überblicke die Batterie an Trockengütern – lacht mich da etwas an? Mit Körnchen wie Quinoa, Bulgur, Chiasaat und Blaumohn kann ich leider nichts anfangen. Nudeln, Linsen und Reis habe ich noch vorrätig. Erdnüsse? Her damit! Käse hätte ich gern, gibt es aber nicht. Dafür finde ich Brotaufstrich, Joghurt, Milch und Butter in Mehrweg-Gläsern – die allerdings ordentlich etwas wiegen.

„Leicht verderbliche Waren eignen sich nicht zum Selberabfüllen, und für eine Bedientheke haben wir derzeit keinen Platz“, erklärt Sonja, und ich denke: Bei aller Kompromissfreude komme ich um einen ergänzenden Supermarkteinkauf nicht herum.

„Es wäre toll, wenn die großen Ketten einen Teil loser Lebensmittel anbieten würden, auch um damit die Massen zu erreichen“, meint die „Stückgut“-Chefin. Es ärgere sie, dass Rewe und Co. zuletzt viel Wirbel um den Verzicht auf Plastiktüten an der Kasse machten. Mehr Potenzial zur Müllvermeidung sehe sie etwa in der Obst- und Gemüseabteilung.

„Auch die Hersteller müssen sich bewegen. Unmöglich finde ich Mehrfachverpackungen wie viele kleine Tütchen Gummibären in einer großen Tüte.“

Doch wie wird die Ware eigentlich angeliefert, fällt Müll hinter den Kulissen an? „Wir beziehen alles in Großgebinden, Reis zum Beispiel in 25-Kilo-Säcken“, antwortet Sonja. „Einige Behälter können wir zurückgeben und neu befüllen lassen, andere nicht. Wenigstens fallen die zusätzlichen Portionspackungen weg.“

DIE SZENE UNTERSTÜTZT SICH GEGENSEITIG

Zwischendurch kommen etliche Leute rein, viele wollen „nur mal schauen“, loben aber das „Superkonzept“. Eine ältere Dame, die schon öfter da war, füllt sich Penne-Nudeln ab und schwärmt: „,Stückgut‘ erinnert mich an den kleinen Kaufmannsladen im Dorf meiner Kindheit, damals in den 50-ern, als noch keine Supermärkte auf der grünen Wiese standen.“ Eine andere Kundin wirft ein: „Er ist wie ein ,Tante Emma‘-Laden, nur moderner. Man kann sich selbst bedienen und wird persönlich beraten.“

Die drei Stückgut-Gründerinnen
Optimistisch: Die Gründerinnen Sonja Schelbach (links) und Insa Dehne (rechts) mit Barista Rebecca Schmidt.

In der Drogerie-Ecke erblicke ich festes Shampoo und Bodybutter neben waschbaren Abschminkpads und Menstruationstassen, und auf dem Boden stehen Pumpkanister mit Reinigern aller Art. Ich könnte Waschmittel gebrauchen, habe aber kein passendes Behältnis dabei. Und nun? Wieder hilft Sonja: „Wir haben immer einen Vorrat gebrauchter Gefäße parat, auch für Spontan-Einkäufe“, sagt sie, kramt in einer Kammer und kehrt mit einem Eimer samt Deckel zurück.

„Da war mal Suppe drin. Gestern hat sich einer Waschmittel in eine Vodkaflasche abgefüllt. Wir haben sie dann neu beschriftet – sicher ist sicher.“

Die Geschäftsidee kam der Hamburgerin bei einem Dänemark-Urlaub 2014, wo sie Marie Delaperrière kennen lernte. Die hatte damals gerade ihren Laden „Unverpackt – lose, nachhaltig, gut“ in Kiel eröffnet, den ersten dieser Art im Land. „Marie hat uns mit tollen Tipps und Kontakten geholfen“, lobt Sonja. Das sei Usus in der Szene, „man unterstützt einander und betreibt intensiv Networking, um die Bewegung voranzutreiben. Ich hoffe, dass bald überall in Hamburg Unverpackt-Läden eröffnen!“

Unverpackt-Pionierin Marie Delaperrière
Die „Unverpackt“-Pionierin Marie Delaperrière in ihrem Kieler Laden.

Die Kieler Pionierin bietet Workshops für Ladengründer an und berät bestehende Geschäfte, die einen Teil ihres Sortiments auf lose Ware umstellen wollen. Auf ihrer Website ist eine Deutschlandkarte zu sehen mit Shops, die sie bereits erfolgreich betreute, darunter „Lola – der Loseladen“ in Hannover, „Zero Hero“ in Nürnberg und „Die Nachfüllbar“ in Saarbrücken.

Grenzüberschreitend war die müllvermeidende Marie für „Gram“ im schwedischen Malmö und „Ouni“ in Luxemburg tätig. Strahlkraft hat auch der „Original Unverpackt“-Laden in Berlin. Der betreibt jetzt sogar einen Onlineshop – leider etwas kontraproduktiv, wenn man Verpackungen sparen will.

Ein Blick in die Welt zeigt, dass sich einiges tut. Bereits 2006 eröffnete in London „Unpackaged“, in vier italienischen Städten gibt es „Effecorta“, in Barcelona „Granel“, und gleich zwei Läden hat Wien: den „Greißler“ und die „Maß-Greißlerei“. Jenseits des Atlantiks finden sich Zero-Waste-Markets in Vancouver, Kanada, Denver, USA, und bald sollen auch die New Yorker müllfrei einkaufen können – um nur eine Auswahl zu nennen.

Welche Läden kennt ihr, welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Mein erstes Fazit: So bequem wie im Supermarkt ist der Einkauf natürlich nicht und die Auswahl ausbaufähig. Dafür geht es im Laden familiär zu, und man kommt mit Gleichgesinnten ins Gespräch. Grund genug, wiederzukommen.

Stückgut - unverpackt einkaufen
Die Ausbeute eines müllfreien Einkaufs.

* In Deutschland fiel 2014 die Rekordmenge von 17,8 Tonnen Verpackungsmüll an (macht rund 220 Kilo pro Kopf/Jahr!), darunter 8 Millionen aus Papier und Pappe und 2,9 Millionen aus Kunststoff. Der Tiefstand in den vergangenen rund 25 Jahren lag bei 13,6 Millionen Tonnen im Jahr 1996. Quelle: UBA


 

Text: Nicoline Haas
Fotos: Stückgut Hamburg (4), Berit Ladeweg (1)