Flüchtlingen helfen und gleichzeitig etwas für den Kiez und die Gemeinschaft tun? Klingt fast wie eine Utopie – ist im Berliner „Sharehaus“ Refugio aber seit 2015 Realität. Sven Lager berichtet über seine Philosophie des „einfach Machens“.
Text: Esther Suave
Dunkle, klirrende Winterkälte in Berlin-Neukölln, der Geruch von Holzkohle in der gepflasterten Straße und ein leuchtendes Schild am klassischen Berliner Hauseingang – mit dem Wort „Refugio“ in schlichten Buchstaben.
Refugio bedeutet Zufluchtsort. Das lateinische Wort Refugium beschrieb ein Haus in einer befestigten Stadt, in das sich Brüder und Schwestern zurückziehen konnten, wenn ihr Kloster aufgrund von Kriegshandlungen unsicher war.
Seit dem Frühling 2015 finden in dem ehemaligen Seniorenheim, einem charmanten Altbau in der Neuköllner Lenaustraße, 40 Menschen Zuflucht. Zwanzig Menschen, die ihre Heimat verloren haben oder verlassen mussten, und 20 Einheimische, die in Gemeinschaft leben möchten oder sich nach einem neuen Lebensentwurf sehnen. Sie leben wie in einer WG zusammen, initiieren Projekte und lernen miteinander.
Die Idee des Sharehauses stammt von Sven Lager und seiner Frau Elke Naters, sie haben das Refugio Berlin als ihr drittes Sharehaus im Auftrag der Berliner Stadtmission entworfen und betreut.
„Die Idee war immer das Potential jedes Einzelnen und der Gemeinschaft zu fördern. Wir haben zehn Jahre in Südafrika gelebt und wollten Menschen, die immer noch durch die Folgen von Apartheid getrennt sind, zusammenbringen und voneinander lernen lassen. Das war unser erstes Sharehaus bei Kapstadt, wo viele junge Leute zusammenkamen.“
Teilen macht reich. Nach dem Sharehaus in Südafrika folgte das Sharehaus Hermanus in Kreuzberg und 2015 das Sharehaus Refugio.
Im Refugio Berlin bringt sich jeder Bewohner mit zehn Stunden wöchentlich in das Kollektiv ein, jeder mit seinen besonderen Talenten, seinen Stärken und Interessen.
Wer noch nicht weiß, was ihn so besonders macht, hat im Refugio viele Optionen, das herauszufinden. Auf dem Dach befindet sich ein Gemeinschaftsgarten, im Erdgeschoss das Café, in dem jeder Zuflucht findet und Teil haben kann an der Gemeinschaft – Bewohner und Nichtbewohner.
Im Hof schrauben die Bewohner in der Fahrradwerkstatt mit „Rückenwind“. In Eigeninitiative gibt es einen syrischen Brunch und Filmvorstellungen, gemeinsam mit „Give something back to Berlin“ können Freiwillige ihre kreativen und sozialen Fähigkeiten einbringen. Sven Lager sagt:
„Jeder Mensch ist gleich wichtig, darum sollte man auch allen Aufgaben geben, die sie ernst nehmen. In Deutschland gingen zum Glück die Türen auf für Menschen, die fliehen mussten, aber wir nutzen ihr Potential nicht. Sie haben keine Hoffnung, weil sie hier keiner braucht, dabei sind sie sehr wichtig und wir brauchen sie. Wir neigen dazu, die Probleme alleine zu lösen. Mit den Geflüchteten wäre das einfacher.“
Im Haus hat jeder sein eigenes Zimmer mit eigenem Bad. In der Gemeinschaftsküche wird zusammen gekocht, und im großen Saal im Erdgeschoss mit bunten Glasfenstern und einer Orgel finden Tanzabende oder Gottesdienste statt. Im Sprachcafé lernen Somalier, Palästinenser, Syrer, Bosnier und Iraker gemeinsam Deutsch.
Nicht nur das Individuum hat großen Wert im Refugio, sondern auch die Verantwortung in der Gemeinschaft, der Kiezgedanke.
„Das Sharehaus Refugio kommt gut an, die Nachbarschaft ist sehr international.“
Richtig gut sei das Kiezkochen des Kreuzbergprojekts im Haus, bei dem auch Geflüchtete für ältere Menschen im Kiez kochen und sich unterhalten.
Auf einer Etage im Refugio arbeiten Künstler in Ateliers zusammen, im Keller üben Bands, zudem sollen Werkstätten eingerichtet werden.
Unterm Dach forscht das Stadtkloster nach Stille und Ruhe und bietet für alle Gäste Exerzitien, Meditationen, Achtsamkeitsübungen und Seminare an, und Pilgerzimmer für Besucher.
Muslime, Skeptiker, Atheisten und Christen leben im Refugio friedlich unter einem Dach. Klassische WG-Themen wie das Putzen der Gemeinschaftsküche hätten mehr Konfliktpotential als die Religionszugehörigkeit der Bewohner. Viel mehr werde sich interessiert über Religion ausgetauscht und Respekt stehe an erster Stelle, so Lagers Erfahrung.
Nach zwölf bis 18 Monaten Gemeinschaft, Workshops und Coaching sind die Bewohner flügge und verlassen das Refugio. Oft schweren Herzens, aber mit vielen neuen Freunden, gestärkt und mit Zukunftsvision, viele sogar mit einem Studien- oder Ausbildungsplatz.
Das Refugio wurde 2017 in die Hände der Berliner Stadtmission unter Leitung des Theologen Harut Harutyunyan übergeben. Sven und Elke arbeiten derweil an weiteren Projekten – Spenden un Mitarbeit willkommen!
„Im Refugio gibt es nur Einzelzimmer, darum suchen alle Wohnungen. Seitdem wir das Haus wie geplant übergeben haben, bereiten wir Folgehäuser vor. Ideal wäre, wenn viele Refugiobewohner zusammenziehen könnten, wie sie es sich wünschen.“
Auch die Idee einer Dorfgemeinschaft auf dem Land ist in Planung. In Italien wurden sterbende Dörfer, wie Riace, zur Heimat von Flüchtlingen.
Die Dörfer profitierten von einer ausgewogenen Familienstruktur und wirtschaftlich von mehr Einwohnern. Die Flüchtlinge wiederum würden Teil einer Landgemeinschaft, in der sie sich willkommen fühlten und ihre Fähigkeiten nutzen könnten, handwerklich, akademisch, persönlich.
Seit 2015 wurde in den deutschen Medien immer wieder von einer „Flüchtlingskrise“ gesprochen, das Flüchtlingsthema von Parteien zu Wahlkampfszwecken missbraucht – gleichzeitig wurden in den letzten Monaten die steigenden Todesziffern von ertrunkenen Flüchtenden im Mittelmeer eher zur Randnotiz.
Es fällt schwer, angesichts der scheinbaren Ausweglosigkeit nicht zu resignieren. Oder?
„Wir sind aktuell in Phase Zwei“, sagt Sven Lager. Er finde, dass wir in Deutschland ziemlich gut damit umgegangen seien, Menschen herzlich aufzunehmen.
„Aber viel zu viele Ankommer vereinsamen und verzweifeln in Notunterkünften oder fühlen sich wertlos.“
Dennoch bleibt er optimistisch. „Klar, guter Wohnraum ist immer noch gefragt“, weiß Lager, „gute Nachbarschaft noch mehr. Vor allem geht es darum, gemeinsam Ethik und Werte zu üben, zu diskutieren, zu fragen, zu lernen. Klingt aufwendig, kann aber jeder und jede täglich üben.“
Er sei immer der Meinung gewesen, dass „einfach Machen“ helfe.
„Wenn jeder von uns nur einen Menschen befreundet, oder eine Familie, die sich hier fremd fühlt, verändert sich viel. Und Sharehäuser sind auch nicht so schwer. Wir helfen gerne gründen.“